Die Entscheidung der SPD, die Parteimitglieder über den
Koalitionsvertrag abstimmen zu lassen, ist ein in der (Verfassungs-) Geschichte
der Bundesrepublik Deutschland bislang einmaliger Vorgang. Sofern sich
Ereignisse im politischen Prozess erstmals ereignen, findet sich auch
regelmäßig jemand, der mahnend den verfassungsrechtlichen Zeigefinger erhebt. Dies
hat diesmal der Leipziger Staatsrechtler Christoph Degenhart getan, der einen
Mitgliederentscheid über die Koalitionsvereinbarung „für verfassungsrechtlich nicht legitim“ hält,
weil ein solcher Vorgang trotz fehlender Verbindlichkeit den von Art. 38 Abs. 1
Satz 2 GG ausdrücklich ausgeschlossenen „Aufträgen und Weisungen“ an Abgeordneten nahe komme. Vermutlich
wäre dieser – bislang vereinzelte – Einwand nicht einmal weiter aufgefallen,
wenn sich nicht SPD-Chef Gabriel in einer Nachrichtensendung mit der Moderatorin über diese Frage duelliert hätte; Gabriel tat derartige Bedenken schlichtweg
als „Blödsinn“ ab.
„Blödsinn“ sind die Einwände gegen einen Mitgliederentscheid
über den Koalitionsvertrag indes nicht. Zunächst offenbarte der Streit allerdings
nur mäßige Kenntnisse über die verfassungsrechtlichen Determinanten der
Regierungsbildung auf beiden Seiten: Neben der Sache lag insbesondere der
Versuch der Moderatorin, das Demokratieprinzip gegen den Mitgliederentscheid
wenden zu wollen, indem sie darauf verwies, dass die Staatsgewalt vom Volke,
nicht aber von den SPD-Mitgliedern ausgehe: Das Volk kann durch Wahlen nur über
die Zusammensetzung des Bundestages (mit-) entscheiden (ein weiteres Mitentscheidungsrecht
nimmt der Bundestag als Gesetzgeber mit der 5 %-Sperrklausel für sich in
Anspruch), am Prozess der Regierungsbildung ist es aber nicht beteiligt. Ebenso
wenig ist der Einwand des SPD-Vorsitzenden von verfassungsrechtlicher Relevanz,
dass in anderen Parteien statt eines Mitgliederentscheids ein
Vorstandsbeschluss über den Koalitionsvertrag erfolge.
Das entscheidende Problem liegt vielmehr woanders: Ein
einzelner Abgeordneter ist zwar bei seinen Entscheidungen im Zusammenhang mit
der Regierungsbildung kraft Verfassungsrechts an Entscheidungen anderer Stelle
– auch der Parteibasis – nicht gebunden (Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG). Auch gibt
das „freie Mandat“ keinen Anspruch darauf, von Meinungsbekundungen, Vorschlägen
und Empfehlungen zur Mandatsausübung verschont zu bleiben. Ein Abgeordneter ist ständig Einflussnahmen
und Wünschen seiner Partei und ihrer Mitglieder sowie seiner Fraktion oder auch
der Wähler ausgesetzt. Es gehört gerade zu den Rahmenbedingungen der
Mandatsausübung, bei der Entscheidung über das (Stimm-) Verhalten zu entscheiden,
ob diesbezügliche Wünsche und Vorstellungen der Partei oder Fraktion außer
Betracht gelassen – und die etwaigen Konsequenzen einer solchen Entscheidung
getragen – werden. Die offene verfassungsrechtliche Frage ist aber, wo die
Grenzen derartiger Vorgaben verlaufen. So hat der Niedersächsische
Staatsgerichtshof in einer – mittlerweile etwas in die Jahre gekommenen – Entscheidung
vom 5. Juni 1985 (StGH 3/84 = StGHE 3,
42 ff.) die
vormalige „Rotation“ von Abgeordneten der Grünen zur Hälfte der Wahlperiode für
verfassungswidrig erklärt. Dabei ging es zwar um einen anderen
Sachzusammenhang, weil verfassungsrechtlich eine bestimmte Dauer der
Wahlperiode vorgegeben ist und diese Regelung nach Auffassung des Staatsgerichtshofs
durch die „Rotation“ unterlaufen werde (STGHE
3, 42 [61]). Eine strukturelle Parallele besteht aber insofern, als
Partei und Fraktion den gewählten Abgeordneten das Mandat nicht entziehen
können, so dass auch im Falle der „Rotation“ letztlich eine „freiwillige“
Unterwerfung unter rechtliche unverbindliche Wünsche, Beschlüsse und
Entscheidungen der Partei vorlag, die der Niedersächsische Staatsgerichtshof gleichwohl
als unzulässig ansah. Daran anknüpfend ist noch in neuerer Zeit die freiwillige
Demission von Mitgliedern kommunaler Vertretungskörperschaften zwecks
Herbeiführung von Neuwahlen als unzulässig angesehen worden. (VG Osnabrück, Urteil vom 30.08.2005, 1 A 335/05).
Man muss dies nicht für richtig halten. Gleichwohl erscheint
die Frage als legitim, in welchem Umfang auch (nur) empfehlende Vorgaben von Partei
und Fraktion für die Mandatsausübung möglich sind. Im Falle der „Rotation“
hatte der Landtag die Feststellung des Mandatsverzicht der betreffenden
Abgeordneten auch mit der Erwägung abgelehnt, dass ein Abgeordneter, der gegen
die repräsentative parlamentarische Demokratie gerichtete Gedanken der Rätedemokratie,
der Basisdemokratie oder des imperativen Mandats durchsetzen wolle, das Prinzip
der repräsentativen Demokratie angreife und damit die verfassungsmäßigen
Schranken überschreite, die ihm durch das Prinzip der wertgebundenen Demokratie
gesetzt seien (zitiert nach STGHE 3, 42
[49]). Auf Basis einer solchen Argumentation wäre aber fraglich, ob die Basis
einer Partei über einen Koalitionsvertrag soll entscheiden dürfen. Jedenfalls
bleibt ein grundsätzliches Problem: Zwar kann ein Abgeordneter einer
Weisungsgewalt seiner Parteibasis nicht unterworfen werden, weil er an Aufträge
und Weisungen nicht gebunden ist (Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG), derartige Vorgaben
daher notwendig unverbindlich sind. Die verfassungsrechtlich vorgegebene
Unwirksamkeit von Aufträgen und Weisungen kann aber nicht unbegrenzt zulassen, treuherzig
Aufträge und Weisungen unter Hinweis auf deren Unverbindlichkeit zu erteilen. Die
Problematik eines Mitgliederentscheids der Parteibasis liegt dabei in dem
Umstand, dass sich diesem Votum kaum ein Abgeordneter wird entziehen können. Es
ist daher zweifelhaft, ob sich verfassungsrechtliche Einwände gegen den basisdemokratischen
Mitgliederentscheid schon durch einen Hinweis darauf erledigen lassen, dass
Wünsche und Empfehlungen der Partei unbeschadet ihrer notwendigen
Unverbindlichkeit zu den von einem Abgeordneten hinzunehmenden
Rahmenbedingungen der Mandatsausübung gehören. Leider wird das
Bundesverfassungsgericht auch aus Anlass des SPD-Mitgliederentscheids wohl
keine Gelegenheit haben, die notwendigen Konkretisierungen zu Art. 38 Abs. 1 Satz
2 GG vorzunehmen.