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Montag, 5. Oktober 2015

Die demokratische Legitimation der "Empörungsindustrie"



Bei der EU-Kommission und anderen Befürwortern des / der transatlantischen Handelsabkommen liegen offenbar die Nerven blank. Anders ist das Maß an befremdlichen Thesen, mit der in der jüngeren Vergangenheit angesichts zahlreicher Proteste gegen TTIP (und CETA) sowie einer angekündigten Großdemonstration in Berlin am 10. Oktober  für ein solches Abkommen getrommelt wird, kaum noch zu erklären. Zwei Beispiele:

1. In einem Beitrag für den Tagesspiegel behauptet Richard Kühnel, seines Zeichens „Chef-Lobbyist der EU-Kommission in Berlin“ („Die Welt“), in allen EU-Handelsabkommen sei die öffentliche Daseinsvorsorge durch "solide Garantien geschützt". Diese Behauptung bezieht er nicht nur auf die transatlantische „Handels- und Investitionspartnerschaft TTIP“, sondern ausdrücklich auf „sämtliche … Freihandelsabkommen, die die EU aushandelt – zum Beispiel das CETA-Abkommen mit Kanada und das Dienstleistungsabkommen TiSA“. Einen Nachweis für diese These anhand von entsprechenden Vorbehalten in den Verträgen bleibt der EU-Repräsentant aber schuldig. Er würde auch schwerfallen. Fischer-Lescano / Horst haben schon im vergangenen Jahr im Einzelnen aufgezeigt, dass vorgesehene Marktöffnungen, das System der „Negativlisten“, das (mindestens) künftige Angelegenheiten automatisch dem kommunalen Zugriff entzieht, sowie auch die Sperrung von Rekommunalisierungen durch Ratchet-Klauseln massive Eingriffe in die Möglichkeiten kommunaler Selbstverwaltung bewirken. Ihr Fazit: „Insgesamt beinhaltet das CETA daher mit der Negativliste, der Ratchet‐Klausel, der weitgehenden Marktöffnung auch im Bereich kommunaler Dienstleistungen und dem Verbot von Offsets eine Reihe von Maßnahmen, die – gerade in ihrer Kombination – die Garantie kommunaler Selbstverwaltung nicht unwesentlich beeinträchtigen“ (Europa- und verfassungsrechtliche Vorgaben für das Comprehensive Economic and Trade Agreement der EU und Kanada [CETA], Oktober 2014, S. 32). Aber kommunale Selbstverwaltung hatte aus EU-Sicht stets einen eher geringen Stellenwert – die Belange multinationaler Konzerne haben da natürlich Vorrang. 

2. Noch zweifelhafter sind die Einlassungen, die der TTIP-Chefpropagandist der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Joachim Pfeiffer, in den vergangenen Tagen präsentiert hat. 

Ebenfalls in einem Beitrag für den Tagesspiegel beschwert sich Pfeiffer über eine „professionalisierte Empörungsindustrie“, die „vollkommen sachfremde Themen“ auf das Abkommen projiziere und TTIP „als Mobilisierungsinstrument für Ihre [sic] Zwecke“ erkannt habe. Welche Zwecke das sein sollen und welche sachfremden Themen instrumentalisiert werden, bleibt dabei zwar offen; angesichts eines argumentativ und intellektuell extrem dürftigen Beitrags, der inbesondere die Notwendigkeit einer "Investitionsgerichtsbarkeit" nicht ansatzweise begründet, wird man aber zivilgesellschaftliches Engagement schon mal als „Empörungsindustrie“ diffamieren  dürfen, wenn es sonst schon zu nichts Lesenswertem langt.



Am 1. Oktober im Bundestag setzte Pfeiffer aber noch eins drauf: Der Abgeordnete hält es zunächst für angezeigt, die Gegner des Transatlantischen Abkommens in toto zu einfach strukturierten Zeitgenossen zu erklären,  die nicht informiert seien und sich – gleichsam als nützliche Idioten – vor den Karren angeblicher Bürgerinitiativen spannen lassen, die Ängste und Emotionen weckten. Anschließend stellte Pfeiffer „die demokratische Legitimation von Campact, von Attac, von Foodwatch und von anderen Mitgliedern dieser Empörungsindustrie in Frage“ (im Video ab 11:15).



Im Grunde bedürfen diese Ausführungen keines Kommentars: Wer pauschal unterstellt, dass die Gegner von TTIP entweder zu dumm zum Erkennen der segensreichen Wirkungen des Freihandelsabkommens sind oder sich allein von irgendwelchen – im Dunklen bleibenden – Interessen leiten lassen, kreiert damit nicht nur eine bizarre Verschwörungsindustrie, sondern erklärt zugleich die komplette intellektuelle und moralische Insolvenz. Einen kurzen Blick verdienen allerdings die Ausführungen zur demokratischen Legitimation der den Widerstand gegen das verfassungswidrige Abkommen organisierenden Vereinigungen. Selbstverständlich verfügen Bürgerinitiativen und andere zivilgesellschaftliche Organisationen über keine demokratische Legitimation. Ihnen dies vorhalten zu wollen, ist indes besonders perfide, weil diese Organisationen eine demokratische Legitimation gar nicht benötigen. Demokratische Legitimation in personeller wie materieller Hinsicht ist eine Voraussetzung für die Berechtigung zur Ausübung von Staatsgewalt, die aber weder von politischen Parteien noch von anderen Akteuren politischer Willensbildung ausgeübt wird. Diese Akteure sprechen nur für sich und die von Ihnen repräsentierten Personen – bei Campact und Co. sind dies in Bezug auf TTIP mittlerweile immerhin mehr als 3 Millionen. Die EU-Kommission wird wissen, warum sie die Europäische Bürgerinitiative gegen TTIP nicht zugelassen hat…