Mitte Mai sorgte ein Bericht des Fernsehmagazins „Report“
für einiges Aufsehen, dem zufolge die Regierung durch das von Andrea Nahles
geleitete Arbeitsministerium eine Verschärfung der Regelungen im Bereich des
SGB II („Hartz-IV“) anstrebe, die nachträgliche Korrekturen einer rechtswidrigen
Versagung von Leistungen erschwere. Dazu erklärte das Ministerium, es gehe nur um eine „klarstellende
Anpassung“, die die Rechtssicherheit erhöhen solle: Eine weitere Verschärfung
bzw. Einschränkung für die Leistungsberechtigten sei damit nicht verbunden.
Diese
Erklärung muss irritieren. Schaut man sich die „Klarstellung“ näher an, so
stellt sich bei näherem Hinsehen heraus, dass hier eine bürgerfreundliche
Rechtsprechung des Bundessozialgerichts mittels einer komplizierten und nur schwer
zu durchschauenden Regelung unterlaufen werden soll. In der Gesamtschau stellt
sich die Frage, ob hier der Versuch unternommen wird, die Öffentlichkeit bewusst
zu täuschen. Im Einzelnen:
Die rückwirkende Gewährung von Leistungen nach Ablauf
der Widerspruchsfrist regelt § 40 Abs. 2 SGB II unter Verweis auf § 44 Abs. 1
und 4 SGB X; dabei wird der Zeitraum für die nachträgliche Leistungsgewährung von
regelmäßig 4 Jahren (§ 44 Abs. 4 Satz 1 SGB X) auf ein Jahr verkürzt (§ 40 Abs.
1 Satz 2 SGB II). Diese Regelung bleibt grundsätzlich unverändert. Für
bestimmte Fallkonstellationen, in denen eine Leistungsablehnung nach Maßgabe späterer
Rechtsprechung nicht gerechtfertigt war, findet sich indes eine Sonderregelung
in § 40 Abs. 2 SGB II, die auf § 330 SGB III verweist. Danach ist in einem
solchen Fall eine Rücknahme nur mit Wirkung für die Zeit nach der entsprechenden
Rechtsprechung vorgesehen (§ 330 Abs. 1 SGB III). Zu dieser Regelung hat das Bundessozialgericht
entschieden, dass das mit ihr verfolgte Ziel, die nachträgliche Korrektur
zahlreicher rechtswidriger Bescheide zu vermeiden, als allein im Interesse der
Verwaltung liegend nur gerechtfertigt ist, wenn es sich auch tatsächlich um
eine massenhafte - bundesweite - Verwaltungspraxis gehandelt hat (Urt. v.
15.12.10 - B 14 AS 61/09 R, Rn. 37).
An dieser Stelle setzt die Neuregelung an: Der
Verweis auf § 330 SGB III wird gestrichen und durch eine Vorschrift (§ 40 Abs.
3 des Entwurfs) ersetzt, die daran anknüpft, dass der jeweils zuständige Leistungsträger
(!) eine Vorschrift anders als die nachfolgende Rechtsprechung ausgelegt hat.
Den Sinn der Änderung macht dessen Begründung deutlich (BT-Drs. 18/8041, S. 48
f.):
„Durch den
neuen Absatz 3 wird künftig bei der Prüfung, ob die bisherige Auslegung einer
Rechtsnorm von der ständigen Rechtsprechung abweicht, auf die Verwaltungspraxis der
jeweiligen Leistungsträger (Bundesagentur für Arbeit, kommunaler Träger,
zugelassener kommunaler Träger) in ihrem Zuständigkeits- und Verantwortungsbereich
abgestellt. ...
Die nach
bisheriger Rechtslage über den Verweis in § 40 Absatz 2 Nummer 2 SGB II
anwendbare Regelung des § 330 Absatz 1 des Dritten Buches Sozialgesetzbuch
diente dem Zweck zu verhindern, dass die Träger der Grundsicherung für
Arbeitsuchende nach einer von ihrer bisherigen Rechtsauslegung abweichenden höchstrichterlichen
Rechtsprechung massenhaft bestandskräftig abgeschlossene Verwaltungsverfahren
wieder aufnehmen müssen. Der Anwendungsbereich der Vorschrift wurde jedoch
durch die Entscheidungen des Bundessozialgerichts vom 15.12.2010 – B 14 AS
61/09 R – und vom 21.06.2011 – B 4 AS 118/10 R – erheblich eingeschränkt. Ein
Jobcenter kann sich hiernach nur dann auf § 330 Absatz 1 des Dritten Buches
Sozialgesetzbuch berufen, wenn es vor der Rechtsprechung des
Bundessozialgerichts eine abweichende bundeseinheitliche Verwaltungspraxis
aller Jobcenter (gemeinsame Einrichtungen und zugelassene kommunale Träger)
gegeben hat. ...
Die bisherige
Regelung führt dazu, dass in jedem einzelnen Streitfall nachgewiesen werden
muss, dass die jeweilige Verwaltungspraxis auch von den zugelassenen kommunalen
Trägern angewendet wird. Da ein entsprechender Nachweis im Hinblick auf die
Vielzahl der vorhandenen Träger kaum möglich ist, entfaltete die Vorschrift
faktisch keine Wirkung.“
Ist damit
alles gut? Eher nicht: Zwar betrifft die in Rede stehende Regelung nur einige
besondere Fallkonstellationen, die eher selten auftreten werden. Für diesen
Fall soll nunmehr durch eine „Klarstellung“ dem schon ursprünglich verfolgten
Ziel zur Durchsetzung verholfen werden. Einige Fragen aber bleiben: Zunächst
ist nicht klar, warum derartige Sachverhalte eine eigene Regelung erfordern,
die im Grunde eine Aufforderung zu vorbeugenden Widersprüchen durch die Leistungsbezieher
ist. Weiter ist nicht ersichtlich, warum einzelne Behörden im Interesse der
Verwaltungsvereinfachung von der Verpflichtung entbunden werden sollen, Bescheide
nachträglich zu korrigieren, wenn sich diese im Nachhinein als rechtswidrig erweisen. Im Steuerrecht wird beispielsweise einer unklaren oder
umstrittenen Rechtslage durch Änderungsvorbehalte Rechnung getragen. Was dem
gut verdienenden Steuerzahler zugebilligt wird, sollte dem Leistungsbezieher nicht
verweigert werden.
Schließlich ist die Behauptung des Ministeriums,
es handele sich nur um eine Klarstellung, mit der keine Verschärfung oder
Einschränkung zu Lasten der Leistungsberechtigten einher gehe, nach Maßgabe der
Auslegung des derzeit geltenden Rechts durch das Bundessozialgericht
offensichtlich unrichtig. Es muss auch angenommen werden, dass das Ministerium
die tatsächlichen Zusammenhänge kennt. Die Behauptungen des Ministeriums wären
danach vorsätzlich wahrheitswidrig. Im Grunde müsste ein/e Minister/in, der/die
Derartiges tut oder duldet, zurücktreten oder entlassen werden.