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Donnerstag, 28. Dezember 2017

Das beA und die "Kammer des Schreckens"

Ab dem 1. Januar 2018 sind alle Anwälte in Deutschland verpflichtet, elektronisch über eine gesicherte Verbindung erreichbar zu sein. Dazu hat die Bundesrechtsanwaltskammer das „besondere elektronische Anwaltspostfach“ (beA) entwickelt. Die seit einem Jahr in einer Versuchsphase durch regelmäßige Ausfälle und schlechte Bedienbarkeit gekennzeichnete Software weist allerdings – offenbar von Anfang an – eine massive Sicherheitslücke auf, die nunmehr durch ein Mitglied des CCC Darmstadt aufgedeckt wurde. Die Architektur des Systems entsprach, soweit für einen Laien nachvollziehbar, offenbar nicht den einschlägigen Richtlinien für die Handhabung von Zertifikaten. Das hätte man nicht nur wissen können, sondern wissen müssen. Das beA ist seit dem 22. Dezember bis auf Weiteres (und voraussichtlich für jedenfalls mehrere Monate) offline.

Heute hat nun die (Bundesrechtsanwalts-) „Kammer des Schreckens“ (BRAKdS) in einem Rundschreiben an alle Anwaltskammern als Grund für die Abschaltung des beA erklärt, am 21. Dezember 2017 habe eine „nicht zur Rechtsanwaltschaft zugelassene Person“ angezeigt, „dass sie in der Client-Security, dem Zugangsinstrument, um auf das beA-System zu gelangen, ein Zertifikat kompromittiert habe“.

Dieses Statement ist schlicht skandalös: Die Software war abzuschalten, weil sie unzulänglich ist, und nicht, weil jemand auf diesen Sachverhalt aufmerksam gemacht hat. Und das kann natürlich auch eine „nicht zur Rechtsanwaltschaft zugelassene“ Person sein, mag man dies bei der BRAK auch für einen Makel oder gar für unzulässig halten. Eigentlich sollten verzerrte Darstellungen eines solchen Kalibers mit dem ZK der KPdSU der Vergangenheit angehören.



Mittwoch, 22. November 2017

Verfassungswidriges Verfassungsrecht in NRW

In mehreren Organstreitverfahren, die von kleineren Piraten wie (u.a.) der Piratenpartei und der Partei „Die Linke“ initiiert worden waren, hat der Verfassungsgerichtshof von Nordrhein-Westfalen gestern eine Verletzung der Wahlrechtsgleichheit zu Lasten der antragstellenden Parteien durch die im Sommer 2016 in die Landesverfassung eingefügte 2,5 %-Sperrklausel für die Wahl der Räte und Kreistage (Art. 78 Abs. 1 Satz 3 LV NW) festgestellt (Urteile v. 21.11.2017 – VerfGH 9/16 u.a.). Gescheitert ist damit der Versuch von CDU, SPD und Grüne, sich mit verfassungsändernder Mehrheit eine „Prämie auf die Macht“ unmittelbar durch die Verankerung der Sperrklausel in der Landesverfassung zu verschaffen. 

Sperrklauseln stellen besondere Anforderungen an ihre verfassungsrechtliche Rechtfertigung, weil sie an der Wahlrechtsgleichheit zu messen sind, die streng und formal zu handhaben ist und deshalb nur einen eng bemessenen Spielraum für Differenzierungen belässt. Nachdem der Verfassungsgerichtshof im Jahre 1999 die seinerzeitige 5 %-Sperrklausel bei Kommunalwahlen nicht hatte passieren lassen, sollten die verfassungsrechtlichen Schwierigkeiten, die mit einer solchen Regelung einhergehen, jetzt ersichtlich dadurch bewältigt werden, dass die Sperrklausel unmittelbar in der Verfassung und damit auf der gleichen Ebene wie der Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit verankert wird.

Dem ist der Verfassungsgerichtshof entgegengetreten, indem er einen unterschiedlichen Rang verschiedener Vorschriften der Landesverfassung postuliert hat. Zentrale Bedeutung hat dabei Art. 69 Abs. 1 Satz 2 LV, dem zufolge Änderungen der Verfassung, die den Grundsätzen des republikanischen, demokratischen und sozialen Rechtsstaates im Sinne des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland widersprechen, unzulässig sind.

Allerdings kommt der Vorschrift im Verständnis des Verfassungsgerichtshofs zunächst nur die Funktion zu, als landesverfassungsrechtliche Bestimmung die Prüfbarkeit der Vereinbarkeit einer Verfassungsänderung  mit dem Grundgesetz durch das Landesverfassungsgericht zu eröffnen, da der Gesetzgeber der Landesverfassung an die genannten Grundsätze ohnehin schon gem. Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GG gebunden ist. Zu diesen Grundsätzen zählt der Verfassungsgerichtshof auch die Wahlrechtsgrundsätze aus Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG, die ihrerseits das demokratische Prinzip aus Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GG ausgestalteten. 

Das ist verfassungsrechtsdogmatisch weder neu noch sensationell und mündet daher in eine Konsequenz, die voraussehbar war: Die Wahlrechtsgrundsätze des Grundgesetzes gelten auch für Einwirkungen auf das Wahlrecht, die durch Änderungen des (Landes-) Verfassungsrechts erfolgen. Verfassungsunmittelbare Sperrklauseln auf Länderebene sind daher über Art. 69 Abs. 1 Satz 2 LV am (bundes-) verfassungsrechtlichen Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit zu messen.

Der nächste Schritt ist damit vorgezeichnet: Vor dem Hintergrund des hohen Rangs der Wahlrechtsgleichheit könne der schwerwiegende Eingriff durch eine Sperrklausel nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts „nicht schon unter Aspekten der Vorsorge gegen Gefahren für die Funktionsfähigkeit“ einer Vertretung gerechtfertigt werden, sondern nur bei konkret absehbaren Funktionsstörungen. Bloße Erschwerungen der Meinungsbildung in einer Vertretung durch das Vorhandensein der Vertreter kleiner Parteien seien als notwendige Folge demokratischer Debatte hinzunehmen.

Auf dieser Grundlage resultiert sodann das Ergebnis mit jener Zwangsläufigkeit, mit der ein Artikel nach erfolgtem Münzeinwurf aus dem Ausgabeschacht eines Warenautomaten fällt: Ein hinreichend zwingender Grund für eine Sperrklausel ist im Gesetzgebungsverfahren nicht dargelegt worden; eine möglicherweise gesteigerte Komplexität der Mehrheits- und Meinungsbildung reicht für die Annahme einer Funktionsstörung nicht aus. In diesem Zusammenhang ist dem Verfassungsgerichtshof besonders für den Satz zu danken, dass es entgegen einer verbreiteten Fehlvorstellung nicht Aufgabe der Wahlgesetzgebung sei, „die Bandbreite des politischen Meinungsspektrums zu reduzieren“.

Der Verfassungsgerichtshof thematisiert ferner die Gefahr, dass parlamentarische – auch verfassungsändernde – Mehrheiten diese missbrauchen, um das Wahlrecht im Eigeninteresse zu gestalten, und folgert hieraus mit dem Bundesverfassungsgericht auf die Erforderlichkeit einer strikten Kontrolle durch die Verfassungsgerichtsbarkeit. Er weist nach, dass das Bundesverfassungsgericht hier in seiner jüngeren Rechtsprechung im Vergleich zu einer früher eher nachsichtigen Judikatur die Kontrollmaßstäbe mittlerweile deutlich verschärft hat. Dass dies geboten ist, macht gerade der vorliegende Fall deutlich, haben hier doch die größten Fraktionen im nordrhein-westfälischen Landtag versucht, mit verfassungsändernder Mehrheit die kleineren Parteien von einer Mitwirkung in Räten und Kreistagen demokratiewidrig auszuschließen.


Freitag, 6. Oktober 2017

Die Mehrfertigungen des Pfändungs- und Überweisungsbeschlusses – ein Grundsatzstreit um 5 Euro

Die schon im vergangenen Jahr behandelte Frage, wie viele Exemplare eines Pfändungs- und Überweisungsbeschusses bei Antragstellung einzureichen sind, erweist sich als Dauerbrenner. Nunmehr hat das Amtsgericht Königstein im Taunus dazu ein paar deutliche Worte gefunden.

In dem entschiedenen Fall hatte die Geschäftsstelle nach Stellung des Antrags neben der Gebühr für den Pfändungs- und Überweisungsbeschluss weitere 5 Euro an (Kopier-) Kosten für ein weiteres Exemplar des Pfändungs- und Überweisungsbeschlusses angefordert. Dagegen wurde vom Vertreter des Antragstellers eingewendet, dass das Gericht eine vollständige Ausfertigung des Beschlusses gem. Abs. 3 zu Nr. 9000 KV-GKG kostenfrei zu erstellen habe. Das Gericht könne daher den eingereichten Entwurf zur Akte nehmen und eine Ausfertigung dem Gerichtsvollzieher übermitteln. Bei dem Erlass des Pfändungs- und Überweisungsbeschlusses handele es sich im Übrigen um eine gerichtliche Handlung, die im Parteibetrieb zuzustellen sei (§ 829 Abs. 2 ZPO), so dass §§ 192 ff. ZPO anzuwenden seien. Soweit der Gerichtsvollzieher weitere Abschriften benötige, könnten diese daher bei der Partei angefordert oder vom Gerichtsvollzieher selbst hergestellt werden (vgl. § 192 Abs. 2 Satz 2 Halbs. S ZPO); das Gericht sei insoweit nicht involviert. Demgegenüber erachtete der Bezirksrevisor in seiner Stellungnahme aus nicht mitgeteilten Gründen Nr. 9000 KV-GKG als nicht anwendbar und verwies im Übrigen – wie mittlerweile üblich – auf § 133 ZPO. Diese Vorschrift ist allerdings nicht einschlägig, weil sie allein vorbereitende Schriftsätze im streitigen Verfahren, nicht aber gerichtliche Entscheidungen in der Zwangsvollstreckung betrifft.

Das AG Königstein (B. v. 22.09.17 – 91 M 1238/17) ist der Auffassung des Bezirksrevisors mit Deutlichkeit entgegengetreten: Die Erinnerung sei gem. § 766 Abs. 2 ZPO zulässig und begründet. Bei der Zustellung an den Drittschuldner handele es sich um eine Parteizustellung. Die Zustellung des Pfändungs- und Überweisungsbeschlusses an den Schuldner habe gem. §§ 829 Abs. 2 Satz 2 ZPO sogleich im Anschluss an die Zustellung an den Drittschuldner zu erfolgen. Diese Zustellung an den Schuldner sei gem. 166 Abs. 2 ZPO vom Gerichtsvollzieher von Amts wegen vorzunehmen. Bei dem Erlass eines Pfändungs- und Überweisungsbeschlusses erhielten der Gläubiger bzw. dessen Bevollmächtigter grundsätzlich eine kostenfreie Ausfertigung. Für den Drittschuldner und den Schuldner würden Ausfertigungen hingegen nicht erteilt; diese seien zum Zeitpunkt des Erlasses des Pfändungs- und Überweisungsbeschlusses weder Parteien noch Beteiligte. § 133 ZPO sei nicht anwendbar, weil es sich bei Pfändungs- und Überweisungsbeschlüssen nicht um vorbereitende Schriftstücke, „sondern nach Nummer 9000 KV GKG von der Dokumentenpauschale befreite gerichtliche Entscheidungen handelt“. Sofern der Gerichtsvollzieher weitere Ausfertigungen benötige, sei er befugt, „diese entweder selbst zu fertigen oder beim Gläubigervertreter anzufordern“. Die Dokumentenpauschale sei daher nicht zu erheben.

Die Rechtsbeschwerde wurde zugelassen.



Mittwoch, 14. Juni 2017

Der Souverän ist ein Problem - über Bürgerentscheide und wie man mit ihnen umgeht

Es gibt vieles, was für mehr direktdemokratische Elemente auf kommunaler und staatlicher Ebene spricht. Und es gibt ein entscheidendes Argument dagegen: Bürger- und Volksentscheide können anders ausgehen, als es Politikern gefällt. Und allein dieses Argument ist aus der Sicht der Politik erheblich, wie ein heute publiziertes Statement des Oberbürgermeisters von Emden augenfällig werden lässt.

Zum Hintergrund: In der Stadt Emden und im Landkreis Aurich haben am vergangenen Sonntag jeweils Bürgerentscheide stattgefunden, mit denen gefragt wurde, ob die (zwei) vorhandenen Krankenhäuser im Landkreis Aurich bzw. das städtische Krankenhaus in Emden erhalten bleiben sollen; die Alternative war die Errichtung eines Zentralklinikums auf der „grünen“ (und möglicherweise naturschutzrechtlich geschützten) Wiese für Kosten von 250 Millionen bis (wohl realistischer) mehr als 500 Millionen Euro. Während im Landkreis Aurich eine Mehrheit für die Errichtung einer Art „Küsten-BER“ votierte, sprachen sich in Emden fast zwei Drittel der Abstimmenden für den Erhalt ihres Krankenhauses aus. Da das Projekt realistischerweise nur im Zusammenwirken der Kommunen realisierbar ist – die Errichtung nur durch ein Kommune dürfte wegen Unvereinbarkeit mit der Leistungsfähigkeit der Kommune sogar unzulässig sein –, hatten die Initiatoren der Bürgerbegehren damit in der Sache zwei „Schüsse“ frei – und haben einmal getroffen.

Das hat der Oberbürgermeister von Emden, dessen Partei – die SPD – bei den Kommunalwahlen im vergangenen Herbst schon einen der größten Einzelverluste in der Parteigeschichte eingefahren hat (> - 20 %), nunmehr veranlasst, „Klartext“ zu reden. In einem Artikel in der „Ostfriesen-Zeitung“ (online nicht verfügbar) holt er zu einem Rundumschlag aus, mit dem er deutlich macht, was ihn stört: Dass die tumben Bürger seiner Stadt gegen ihn entschieden haben, obwohl er es doch so viel besser weiß. Im Einzelnen:

Der Oberbürgermeister kritisiert die Fragestellung, die auf ein „Ja“ zum Erhalt des vorhandenen Krankenhauses gerichtet und deshalb nicht „objektiv“ gewesen sei. Denn: Wer könne dazu schon „Nein“ sagen? Die Antwort lautet: Jeder, der ein anderes Krankenhaus will. In der Sache erklärt der Bürgermeister lediglich die Abstimmenden für zu dumm, die Implikationen der Fragestellung zu verstehen. Zudem beschränkt die Fragestellung auch die Reichweite der (einen Ratsbeschluss ersetzenden) Sachentscheidung; die Handlungsfähigkeit der Politik wird daher auch nur in diesem Umfang beschränkt. Aber natürlich wäre es aus der Sicht eines Mitglieds einer sozialdemokratischen Funktionärskaste vorzugswürdig, wenn man den Menschen die Fragestellung vorschreiben könnte.

Darauf zielt denn auch ein weiterer Einwand des Oberbürgermeisters, der daran anknüpft, dass es ursprünglich jeweils zwei Bürgerbegehren gegeben hatte, da auch die Befürworter der Zentralklinik ein solches eingereicht hatten. Die Fragestellung war daher die Folge eines „Windhundrennens“, weil die Verwaltungen die Vorgabe gemacht hatten, nur das Bürgerbegehren zuzulassen, das zuerst die nötigen Unterstützungsunterschriften einreicht. Hier liegt ein erster Skandal, denn dieses „Windhundrennen“ ist nur einer von zahlreichen Rechtsbrüchen, die sich die Verwaltung(en) im Vorfeld des Bürgerentscheids geleistet haben. Das begann bereits im Vorfeld mit einer nicht entsprechend den Vorgaben der Kommunalverfassung vorbereiteten Beschlussfassung über die Errichtung der Zentralklinik (zumindest im Landkreis Aurich) und endete (vorläufig) mit einer Selbstermächtigung des Emder Rates zu einseitiger Wahlpropaganda im Abstimmungslokal durch Aushang einer (ablehnenden) Stellungnahme zur Fragestellung. In diesen Rahmen gehört aber auch das in der Kommunalverfassung gar nicht vorgesehene (und entgegen einem Hinweis des Innenministeriums auf die Rechtslage) veranstaltete „Windhundrennen“, dessen besonderer Effekt es ist, dass die Initiatoren des Bürgerbegehrens den für die Sammlung von Unterschriften zur Verfügung stehenden Zeitraum nicht ausschöpfen konnten, weil sie damit rechnen mussten, dass das gegenläufige Begehren die Unterschriften eher einreicht und dann die Zulassung des eigenen Begehrens allenfalls auf dem umständlichen, zeitaufwändigen und kostenintensiven Weg des verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutzes erstritten werden kann. Um dem die Krone aufzusetzen, hat dann die Stadt Emden noch versucht, durch Nichtanerkennung richtigerweise als gültig zu bewertender Unterschriften die Erreichung des notwendigen Quorums zu vereiteln, was nur knapp gescheitert ist. Nunmehr kritisiert der Oberbürgermeister von Emden aber ausgerechnet dieses Windhundrennen, weil es zu einer falschen Fragestellung geführt habe. Hier offenbart sich ein zutiefst gestörtes Verhältnis zur intellektuellen Redlichkeit.

Schließlich hadert der Oberbürgermeister „mit der kommunalen Trennung bei der Befragung“ (so die OZ), weil die Addition der Stimmen in Emden und im Landkreis eine knappe Mehrheit für die Zentralklinik ergeben habe. Nach seiner Auffassung hätte daher möglich sein müssen, einen Entscheid durchzuführen. Das ist nicht nur wegen der auf Emden bezogenen Fragestellung grotesk: Die kommunale Zusammenarbeit ist dadurch gekennzeichnet, dass unterschiedliche Kommunen zusammenarbeiten. Über eine Zusammenarbeit muss daher jede Kommune zunächst selbst entscheiden. Das ist so selbstverständlich und banal, dass ein Vorschlag, über die Zusammenarbeit auf der übergeordneten Ebene der beteiligten Kommunen zu entscheiden, wegen der Möglichkeit einer Entscheidung gegen den Willen einer der beteiligten Kommunen mit der Gewährleistung kommunaler Selbst-(!) Verwaltung von vornherein nicht zu vereinbaren wäre. Wer anderes will, muss den Kommunen die jeweilige Zuständigkeit entziehen oder kommunale Selbstverwaltung abschaffen.

Letztlich zeigen die Äußerungen des Emder Oberbürgermeisters daher, wo dessen (persönliches) Problem liegt: Auch in der Kommunen ist der Bürger der Souverän. Das ist lästig, von Politikern aber zu akzeptieren – ob sie wollen oder nicht. Wer das nicht kann, sollte zurücktreten.

Donnerstag, 11. Mai 2017

Eine Klatsche für die Kommission – EuG stärkt Europas Bürger

Seit dem Vertrag von Lissabon sieht Art. 11 EUV ein direktdemokratisches Verfahren vor, mit dem die EU-Kommission durch die Bürgerinnen und Bürger der Mitgliedstaaten aufgefordert werden kann, sich mit einer bestimmten europapolitischen Frage zu befassen, zu der ein Rechtsakt der Union für erforderlich gehalten wird. Hierfür erforderlich sind eine Million Unterschriften von EU-Bürgern aus mindestens einem Viertel der Mitgliedstaaten (Art. 11 Abs. 4 EUV, Art. 28 Abs. 1 AEUV i.V.m. Art. 7 VO [EU] 211/11 v. 16.02.2011); eine hohe Hürde angesichts der eher überschaubaren Auswirkungen einer erfolgreichen Initiative. Gleichwohl versucht die Kommission, den Anwendungsbereich dieser Regelungen so restriktiv wie möglich zu handhaben; Einmischungen der Bürger in europäische Angelegenheiten sind offenbar unerwünscht. So lehnte die Kommission im Jahre 2014 die erforderliche Registrierung einer Europäischen Bürgerinitiative ab, die sich gegen die Verhandlungen über die transatlantischen Freihandelsabkommen TTIP (USA) und CETA (Kanada) wendete. Die sehr vordergründig argumentierende Begründung: Nach Art. 11 EUV könne eine Initiative nur auf Vorschläge zielen, zu denen es nach Ansicht der Bürgerinnen und Bürger eines Rechtsakts der Union bedürfe, um die Verträge umzusetzen. Die Bürgerinitiative wende sich aber gegen das Verhandlungsmandat für die Freihandelsabkommen, das der Kommission vom Rat erteilt worden war, so dass es gerade nicht um einen Rechtsakt gehe, der auf Veränderungen des Unionsrechts ziele. Desgleichen sei auch eine Initiative unzulässig, die sich gegen den Abschluss des Freihandelsabkommens wende. Kurz: Ein „kassatorisches“ Begehren gegen das Wirken der Kommission soll generell nicht möglich sein.

Hiergegen wendete sich der die Initiative tragende Bürgerausschuss (Art. 3 Abs. 2 VO [EU] 211/11 v. 16.02.2011) mit einer Anrufung des Gerichts der Europäischen Union (EuG) u.a. durch Michael Efler, einen der Initiatoren der direktdemokratischen Elemente des EU-Vertrages und des Bürgerbegehrens sowie seit kurzem für „Die Linke“ Mitglied des Berliner Abgeordnetenhauses.

Mit Urteil vom heutigen Tage hat das Gericht den angegriffenen Beschluss der Kommission für nichtig erklärt (T-754/14). Die Begründung gerät zu einer demokratietheoretischen Lehrstunde für die Kommission:

Das Gericht wendet sich zunächst gegen ein enges Verständnis des Begriffs des Rechtsakts im Sinne von Art. 11 Abs. 4 EUV, namentlich eine Beschränkung auf endgültige Rechtsakte (Rn. 35 ff.), weil die Ziele der Vorschriften über die Europäische Bürgerinitiative dem entgegenstünden: Der Grundsatz der Demokratie als einer der grundlegenden Werte der Union und das Ziel einer Verbesserung ihrer  demokratischen Funktionsweise durch Schaffung eines Rechts der Bürger auf „Beteiligung am demokratischen Leben“ machten es vielmehr erforderlich, in den Begriff des Rechtsakts auch Beschlüsse zur Aufnahme von Verhandlungen über internationale Übereinkünfte einzubeziehen, die auf eine Änderung der Rechtsordnung der Union zielten (Rn. 37). Folgerichtig wird auch der befremdliche Einwand der Kommission zurückgewiesen, die angestrebten Maßnahmen – namentlich die Nichtunterzeichnung der transatlantischen Freihandelsabkommen TTIP und CETA – seien „destruktive“ Rechtsakte, die nicht der Umsetzung der Verträge dienten. Der „Umsetzung der Verträge“ dienten vielmehr auch Rechtsakte, „die die Verhinderung des Abschlusses von TTIP und CETA zum Gegenstand haben, mit denen die Rechtsordnung der Union geändert werden soll“ (Rn. 41). Es gebe keinen Grund, Rechtsakte von einer demokratischen Debatte auszuschließen, die auf die Verhinderung einer Änderung des Unionsrechts zielten (Rn. 42).

Mit deutlichen Worten wendet sich das Gericht ferner gegen die Ansicht der Kommission, eine Zulassung der Initiative führe „zu einer nicht hinnehmbaren Einmischung in den Ablauf eines laufenden Rechtssetzungsverfahrens“: Das mit der Europäischen Bürgerinitiative verfolgte Ziel bestehe gerade darin, den Unionsbürgern verstärkte Mitwirkungsrechte einzuräumen und damit eine „demokratische Debatte“ zu ermöglichen, „ohne den Erlass des Rechtsakts abwarten zu müssen, dessen Änderung oder Aufgabe letztlich angestrebt wird“ (Rn. 45). Die geplante Bürgerinitiative, die von einer Einmischung in den Gang eines laufenden Rechtssetzungsverfahrens weit entfernt sei, sei Ausdruck der wirksamen Beteiligung der Unionsbürger am demokratischen Leben der Union und stelle daher auch das von den Verträgen gewollte institutionelle Gleichgewicht nicht in Frage (Rn. 47)

Diese teleologischen Erwägungen des Gerichts sind ebenso schlicht wie schlagend: Wenn das Instrument der Europäischen Bürgerinitiative auf stärkere Partizipation der Bürger in Angelegenheiten der Union gerichtet ist, dient ein Rechtsakt auch dann der Umsetzung der Verträge, wenn er nicht auf Veränderungen des Unionsrechts, sondern auf die Verhinderung nachteiliger Veränderungen abzielt. Desgleichen verfehlt ist eine gekünstelte Unterscheidung zwischen vorläufigen und endgültigen Rechtsakten. Dies gilt erst recht bei Angelegenheiten, die Verträge zum Gegenstand haben, weil der endgültige Rechtsakt den Vertrag in Kraft setzt und dann gar nicht mehr verhindert werden kann. 

Demgegenüber kann das (Selbst-) Verständnis der Kommission mit Blick auf Bürgerbeteiligung nur verwundern. Wer Partizipation der Bürger als „Einmischung“ begreift, hat grundlegende Charakteristika eines demokratischen Systems nicht verstanden und muss sich über eine Ablehnung der europäischen Institutionen in ihrer gegenwärtigen Form nicht wundern; das wiederum stärkt Nationalisten und Populisten.

Dienstag, 25. April 2017

Der Nachrang der Sozialhilfe, die Rechtsbindung der Verwaltung und ein gutes Gefühl

Es könnte alles so schön sein: "Lia ist sieben Jahre alt, spielt gerne Gesellschaftsspiele, fährt Kettcar, tobt auf dem Spielplatz und besucht die erste Klasse...“, so beginnt ein Artikel in der „Hannoversche Allgemeine Zeitung“ (Online entgeltpflichtig) vom 25. April über ein Kind aus Lingen, das aufgrund einer Behinderung nachmittags während der Zeit der Berufstätigkeit der Eltern einer zusätzlichen Betreuung bedarf. Aber leider: Die Verhältnisse, sie sind nicht so. Denn an den Kosten der nachträglichen Betreuung am Nachmittag werden die Eltern von der Stadt Lingen in Form eines Betreuungsbeitrags beteiligt; einen dagegen gerichteten Widerspruch hat der Landkreis Emsland zurückgewiesen. Damit zieht die (Kreis-) Verwaltung nun Unmut auf sich: Entgegen der Empfehlung des Landes, der Praxis in der Region Hannover und den Wünschen des Rates der Stadt Lingen in einer kürzlich gefassten Resolution bleibe der Landkreis hart und berufe sich – unerhört – auch noch auf das Gesetz.

Dies allerdings zu Recht: Nach § 87 Abs. 1 Satz 1 SGB XII ist die Aufbringung der Mittel für die Betreuung „in angemessenem Umfang zuzumuten“, soweit das zu berücksichtigende Einkommen die Einkommensgrenze übersteigt. Aus dieser Vorschrift resultiert eine grundsätzliche Pflicht zur Heranziehung der Leistungsempfänger bzw. ihrer Eltern, wie in der Rechtsprechung jedenfalls seit einer Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts zu der (Vorgänger-) Regelung in § 84 BSHG (Urt. v. 26.10.1989 – 5 C 30/86, Rn. 12) geklärt und auch durch die zwischenzeitlich zuständig gewordenen Sozialgerichte bestätigt worden ist. So meint das SG Fulda: „Andererseits darf nicht übersehen werden, dass das Einkommen der Kläger die Einkommensgrenze ... in nicht unerheblicher Weise überschreitet. Insbesondere dient die den Klägern gewährte Unterstützung ... auch dazu, ... eine Teilzeitbeschäftigung zu ermöglichen. Es wäre mit dem in § 87 Abs. 1 SGB XII auch zum Tragen kommenden Nachranggrundsatz der Sozialhilfe kaum vereinbar, einer einsatzpflichtigen Person die Erwirtschaftung finanzieller Vorteile zu ermöglichen, die damit verbundenen Kosten aber ganz überwiegend auf die Allgemeinheit abzuwälzen“ (Gerichtsbescheid v. 10.07.2012 – S 7 SO 51/11, Rn. 38).

Eine allgemeine Freistellung von den Mehraufwendungen aufgrund eines besonderen Betreuungsaufwands ist daher nach dem gegenwärtig geltenden Recht nicht möglich. Davon unabhängig kann man mit guten Gründen die Position einnehmen, dass diese Regelung mittlerweile unzeitgemäß ist und Eltern behinderter Kinder nicht zusätzlich und stärker als Eltern nichtbehinderter Kinder belastet werden sollen – die Mehraufwendungen also vom Steuerzahler zu tragen sind. Das aber ist eine rechtspolitische Forderung, die gerade nicht den gegenwärtigen Vorgaben des SGB XII entspricht. Solange der Gesetzgeber einer solchen Forderung nicht nachkommt, ist es den kommunalen Gebietskörperschaften unter Geltung des Grundsatzes der Gewaltenteilung jedoch nicht gestattet, gleichsam aus eigener Machtvollkommenheit eine davon abweichende Rechtspraxis zu etablieren. Auch ein aus § 87 SGB in Bezug auf den „angemessenen Umfang“ des Mitteleinsatzes resultierendes Ermessen ermöglicht nicht, die Heranziehung stets als unangemessen zu qualifizieren, zumal der Gesetzgeber bei Fällen schwerster Behinderungen einen Einsatz von maximal 40 Prozent des Einkommensüberhangs immer noch als grundsätzlich zulässig ansieht (vgl. § 87 Abs. 1 Satz 3 SGB XII).

Umso bemerkenswerter ist, dass das Land Niedersachsen in Übereinstimmung mit der Landesbeauftragten für Menschen mit Behinderung die Praxis der Region Hannover preist, Eltern grundsätzlich nicht zu den (zusätzlichen) Kosten der Betreuung behinderter Kinder heranzuziehen. Von Landesbehörden und -bediensteten wäre indes zu erwarten, dass sie die Rechtsgebundenheit der Verwaltung im gewaltenteiligen Staat respektieren und nicht im Interesse eines gewünschten Ergebnisses zu seiner Missachtung auffordern. Auch wenn man eine gesetzgeberische Entscheidung für falsch hält, ist es nicht angängig, dass sich eine gesetzesgebundene Verwaltung hierüber einfach hinwegsetzt. Erst recht kann dies von der Verwaltung nicht ernsthaft verlangt werden.

Nachtrag: Abwegig ist daher auch die nunmehr von den Grünen in polemischer Form erhobene Forderung, der Landkreis solle seine Entscheidung korrigieren. Sinnvoll wäre es, wenn Abgeordnete sich ein Minimum an Sachkenntnis aneignen würden, bevor populistische Forderungen erheben werden. Im Übrigen hätten die in mehreren Bundesländern (mit-) regierenden Grünen die Möglichkeit gehabt, im Rahmen der Beratungen über das Bundesteilhabegesetz auf eine Änderung der gesetzlichen Regelungen hinzuwirken. Das dies der Fall gewesen wäre, ist nicht überliefert.