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Donnerstag, 11. Mai 2017

Eine Klatsche für die Kommission – EuG stärkt Europas Bürger

Seit dem Vertrag von Lissabon sieht Art. 11 EUV ein direktdemokratisches Verfahren vor, mit dem die EU-Kommission durch die Bürgerinnen und Bürger der Mitgliedstaaten aufgefordert werden kann, sich mit einer bestimmten europapolitischen Frage zu befassen, zu der ein Rechtsakt der Union für erforderlich gehalten wird. Hierfür erforderlich sind eine Million Unterschriften von EU-Bürgern aus mindestens einem Viertel der Mitgliedstaaten (Art. 11 Abs. 4 EUV, Art. 28 Abs. 1 AEUV i.V.m. Art. 7 VO [EU] 211/11 v. 16.02.2011); eine hohe Hürde angesichts der eher überschaubaren Auswirkungen einer erfolgreichen Initiative. Gleichwohl versucht die Kommission, den Anwendungsbereich dieser Regelungen so restriktiv wie möglich zu handhaben; Einmischungen der Bürger in europäische Angelegenheiten sind offenbar unerwünscht. So lehnte die Kommission im Jahre 2014 die erforderliche Registrierung einer Europäischen Bürgerinitiative ab, die sich gegen die Verhandlungen über die transatlantischen Freihandelsabkommen TTIP (USA) und CETA (Kanada) wendete. Die sehr vordergründig argumentierende Begründung: Nach Art. 11 EUV könne eine Initiative nur auf Vorschläge zielen, zu denen es nach Ansicht der Bürgerinnen und Bürger eines Rechtsakts der Union bedürfe, um die Verträge umzusetzen. Die Bürgerinitiative wende sich aber gegen das Verhandlungsmandat für die Freihandelsabkommen, das der Kommission vom Rat erteilt worden war, so dass es gerade nicht um einen Rechtsakt gehe, der auf Veränderungen des Unionsrechts ziele. Desgleichen sei auch eine Initiative unzulässig, die sich gegen den Abschluss des Freihandelsabkommens wende. Kurz: Ein „kassatorisches“ Begehren gegen das Wirken der Kommission soll generell nicht möglich sein.

Hiergegen wendete sich der die Initiative tragende Bürgerausschuss (Art. 3 Abs. 2 VO [EU] 211/11 v. 16.02.2011) mit einer Anrufung des Gerichts der Europäischen Union (EuG) u.a. durch Michael Efler, einen der Initiatoren der direktdemokratischen Elemente des EU-Vertrages und des Bürgerbegehrens sowie seit kurzem für „Die Linke“ Mitglied des Berliner Abgeordnetenhauses.

Mit Urteil vom heutigen Tage hat das Gericht den angegriffenen Beschluss der Kommission für nichtig erklärt (T-754/14). Die Begründung gerät zu einer demokratietheoretischen Lehrstunde für die Kommission:

Das Gericht wendet sich zunächst gegen ein enges Verständnis des Begriffs des Rechtsakts im Sinne von Art. 11 Abs. 4 EUV, namentlich eine Beschränkung auf endgültige Rechtsakte (Rn. 35 ff.), weil die Ziele der Vorschriften über die Europäische Bürgerinitiative dem entgegenstünden: Der Grundsatz der Demokratie als einer der grundlegenden Werte der Union und das Ziel einer Verbesserung ihrer  demokratischen Funktionsweise durch Schaffung eines Rechts der Bürger auf „Beteiligung am demokratischen Leben“ machten es vielmehr erforderlich, in den Begriff des Rechtsakts auch Beschlüsse zur Aufnahme von Verhandlungen über internationale Übereinkünfte einzubeziehen, die auf eine Änderung der Rechtsordnung der Union zielten (Rn. 37). Folgerichtig wird auch der befremdliche Einwand der Kommission zurückgewiesen, die angestrebten Maßnahmen – namentlich die Nichtunterzeichnung der transatlantischen Freihandelsabkommen TTIP und CETA – seien „destruktive“ Rechtsakte, die nicht der Umsetzung der Verträge dienten. Der „Umsetzung der Verträge“ dienten vielmehr auch Rechtsakte, „die die Verhinderung des Abschlusses von TTIP und CETA zum Gegenstand haben, mit denen die Rechtsordnung der Union geändert werden soll“ (Rn. 41). Es gebe keinen Grund, Rechtsakte von einer demokratischen Debatte auszuschließen, die auf die Verhinderung einer Änderung des Unionsrechts zielten (Rn. 42).

Mit deutlichen Worten wendet sich das Gericht ferner gegen die Ansicht der Kommission, eine Zulassung der Initiative führe „zu einer nicht hinnehmbaren Einmischung in den Ablauf eines laufenden Rechtssetzungsverfahrens“: Das mit der Europäischen Bürgerinitiative verfolgte Ziel bestehe gerade darin, den Unionsbürgern verstärkte Mitwirkungsrechte einzuräumen und damit eine „demokratische Debatte“ zu ermöglichen, „ohne den Erlass des Rechtsakts abwarten zu müssen, dessen Änderung oder Aufgabe letztlich angestrebt wird“ (Rn. 45). Die geplante Bürgerinitiative, die von einer Einmischung in den Gang eines laufenden Rechtssetzungsverfahrens weit entfernt sei, sei Ausdruck der wirksamen Beteiligung der Unionsbürger am demokratischen Leben der Union und stelle daher auch das von den Verträgen gewollte institutionelle Gleichgewicht nicht in Frage (Rn. 47)

Diese teleologischen Erwägungen des Gerichts sind ebenso schlicht wie schlagend: Wenn das Instrument der Europäischen Bürgerinitiative auf stärkere Partizipation der Bürger in Angelegenheiten der Union gerichtet ist, dient ein Rechtsakt auch dann der Umsetzung der Verträge, wenn er nicht auf Veränderungen des Unionsrechts, sondern auf die Verhinderung nachteiliger Veränderungen abzielt. Desgleichen verfehlt ist eine gekünstelte Unterscheidung zwischen vorläufigen und endgültigen Rechtsakten. Dies gilt erst recht bei Angelegenheiten, die Verträge zum Gegenstand haben, weil der endgültige Rechtsakt den Vertrag in Kraft setzt und dann gar nicht mehr verhindert werden kann. 

Demgegenüber kann das (Selbst-) Verständnis der Kommission mit Blick auf Bürgerbeteiligung nur verwundern. Wer Partizipation der Bürger als „Einmischung“ begreift, hat grundlegende Charakteristika eines demokratischen Systems nicht verstanden und muss sich über eine Ablehnung der europäischen Institutionen in ihrer gegenwärtigen Form nicht wundern; das wiederum stärkt Nationalisten und Populisten.