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Sonntag, 22. Juli 2018

Verfassungsfeinde im öffentlichen Dienst

Der Spiegel berichtet: Bei der Abschiebung des angeblichen Gefährders Sami A. haben die zuständigen Behörden das Gericht getäuscht, indem sie die Aufhebung einer Abschiebung mitgeteilt und die erneute Anordnung verschwiegen haben (sog. „Naumburg-Masche“, in Anlehnung an das Verhalten des OLG Naumburg gegenüber dem BVerfG im Falle Kazim Görgülü). Die eigentlichen "Gefährder sind damit die zuständigen Minister Stamp und Seehofer", indem diese das rechts- und verfassungsfeindliche Treiben der Behörden decken und billigen - denn damit gefährden sie Demokratie- und Rechtsstaatlichkeit. Hier zeigt sich die Erosion elementarer Prinzipien eines Rechtsstaats, die auch schon im Falle der Missachtung einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts durch den Bürgermeister der Stadt Wetzlar gezeigt hat.

Sonntag, 6. Mai 2018

Pro Sieben (ver)zählt die Artikel des Grundgesetzes

Auf Youtube kann man sich das letzte Spiel der gestrigen Pro 7-Sendung „Schlag den Henssler“ ansehen. Die Kandidaten mussten pro Runde drei Fragen beantworten, bei denen die Antwort jeweils aus einem Zahlenwert besteht, und die Ergebnisse der Fragen addieren („Schätzrechnen“). Wer am nächsten am exakten Wert der Gesamtsumme lag, gewann.

Bei einer dieser Fragen war u.a. die Frage zu beantworten, wie viele Artikel das Grundgesetz hat. Die Antwort war entscheidend, weil die richtigen Antworten auf die beiden anderen Fragen praktischerweise im einstelligen bzw. unteren zweistelligen Bereich lagen. Der Kandidat schätzte die Zahl der GG-Artikel auf 300, der TV-Koch auf 42. Als richtige Antwort benannte Pro Sieben die Zahl von 146 Artikeln, womit der Kandidat mit einer Abweichung von (insgesamt) 136 über der Summe der Einzelwerte und der TV-Koch mit -109 unter der Summe der Einzelwerte blieb. Die Abweichung des TV-Kochs war geringer, der Punkt ging an ihn.

Indes ist die Antwort falsch: Art. 146 GG ist zwar die höchste „Artikelnummer“ im Grundgesetz. Unter Berücksichtigung der Aufhebungen, Ergänzungen (a-Artikel, b-Artikel etc.) sowie der fortgeltenden Artikel der WRV (Art. 136-139 und 141 WRV) ergeben sich jedoch insgesamt 201 GG-Artikel. Damit wäre der Kandidat von dem richtigen Gesamtergebnis (234) um den Wert 81 abgewichen, der TV-Koch um 164. Der Punkt hätte an den Kandidaten gehen müssen.

Der Kandidat ging am Ende leer aus. Pro Sieben hat geholfen


Freitag, 6. April 2018

Der Populist, die Stadthalle und das Bundesverfassungsgericht

1. Vorbemerkung

Der Vorwurf des „Populismus“ wird typischerweise in Bezug auf Parteien im rechten Teil des politischen Spektrums erhoben; diese gelten dann als „rechtspopulistisch“. Diese Einordnung auch materiell zu unterfüttern, ist indes nicht immer leicht, gibt es doch in den Politikwissenschaften keinen allgemein konsentierten „Populismusbegriff“. Dem liegt zugrunde, dass Populismus zunächst eine Form politischer Kommunikation beschreibt, die auf bestimmten politischen Vorstellungen beruht. Diese schließen typischerweise die Annahme ein, dass die Gesellschaft aus zwei antagonistischen Gruppen besteht: Einerseits der „herrschenden Elite“ und andererseits dem (wahlweise ausgebeuteten, geknechteten, getäuschten) Volk , dessen (wahren) Willen und Interessen der Populist gegen die (definitionsgemäß korrupten) Herrschenden zum Ausdruck bringt. Die politische Argumentation des Populisten hebt demgemäß auf diesen angeblichen Gegensatz zwischen (gutem) Volk und (böser) Elite ab (instruktiv S. T. Franzmann, MIP 2016, S. 23 [24 f.]. m.w.N.). Die Kenntnis der „wahren“ Interessen und Bedürfnisse einer bestimmten Gruppe (z. B. des Volkes), denen das herrschende „System“ nicht Rechnung trägt, mündet dann in die Ablehnung eines pluralistischen Systems.

Es liegt auf der Hand, dass auf dieser Grundlage die Kennzeichnung etwa der AfD als „rechtspopulistisch“ nach Maßgabe einiger Äußerungen von Parteiführern ihre grundsätzliche Berechtigung hat. Indes ist Populismus nicht nur auf Basis eines als Einheit und „Wert an sich“ verstandenen  (biologistischen) Volksbegriffs möglich. Ein Marxist, der sich etwa als Repräsentant der wahren Interessen der „Arbeiterklasse“ („Avantgarde des Proletariats“) versteht, unterscheidet sich letztlich nur im Bezugspunkt seiner Vorstellungen von einem Rechtspopulisten, was das Phänomen der „Querfront“ – von gemeinsamer Ablehnung einer (politischen und / oder ökonomischen) „Elite“ bis hin zum Antisemitismus – erklären helfen mag.

2. Der Bürgermeister und das Bundesverfassungsgericht

In einem Streit zwischen der NPD und die Stadt Wetzlar über die Überlassung der Stadthalle an die NPD hat das Bundesverfassungsgericht am 24. März einen Beschluss gefasst, mit dem der Stadt Wetzlar aufgegeben wurde, „der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung vom 20. Dezember 2017 (Az. 8 L 9187/17.Gl), Folge zu leisten und dem Antragsteller [sc. der Stadtverband der NPD] die Stadthalle am 24. März 2018 für die Durchführung einer Wahlkampfveranstaltung zu überlassen“. Dem vorausgegangen war eine entsprechende Entscheidung des Verwaltungsgerichts (und nachfolgend eine bestätigende Entscheidung des HessVGH), mit der die Stadt schon vor Monaten im Wege der einstweiligen Anordnung zur Überlassung der Halle an die NPD verpflichtet worden war. Die Stadt, handelnd durch den Bürgermeister, verweigerte dies unter Hinweis (u.a.) auf fehlenden Versicherungsschutz für die geplante Veranstaltung. Auch die Androhung, Festsetzung und erneute Androhung eines (weiteren) Zwangsgeldes ignorierte die Stadt.

Das Bundesverfassungsgericht begründete seine Entscheidung mit dem absehbaren Obsiegen der NPD in der Hauptsache. Die NPD habe bereits eine vollziehbare verwaltungsgerichtliche Entscheidung erwirkt, und es sei bereits wegen deren Nichtbefolgung ein Zwangsgeld verhängt worden. Gleichwohl werde die Befolgung der Entscheidung aus Gründen verweigert, die vor den Verwaltungsgerichten entweder nicht rechtzeitig geltend gemacht wurden oder als unerheblich angesehen worden seien. Dies werde in einem Hauptsacheverfahren absehbar als Verletzung von Art. 8 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 und 19 Abs. 4 GG zu beurteilen sein.


3. Der Oberbürgermeister


Nun gilt zwar der Grundsatz, dass man keinen bösen Willen unterstellen sollte, wenn Dummheit als Erklärung ausreicht. In diesem Falle bedarf es indes nur eines Minimums an Lesekompetenz, um festzustellen, dass die Einlassung der Stadt in so offensichtlichem Widerspruch zu den gerichtlichen Entscheidungen steht, dass niemand ernsthaft der Meinung sein kann, die Verweigerung des Zugangs zur Halle stehe mit den existierenden Entscheidungen in Einklang: Der Tenor der Entscheidung des VG Gießen vom 20. Dezember 2017 lautet: „Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller die Stadthalle [Adresse] am 24.03.2018 für die Durchführung einer Wahlkampfveranstaltung zu überlassen“. Diese Aussage ist ebenso eindeutig, wie der Tenor der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts. Zudem erwähnt das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung ausdrücklich den erst nach der Entscheidung des VG Gießen erhobenen Einwand fehlenden Versicherungsschutzes, der das Gericht aber gerade nicht vom Erlass der einstweiligen Anordnung abgehalten hat. Vielmehr verweigere die Stadt die Befolgung der Entscheidung des Verwaltungsgerichts aus Gründen, „die sie vor den Verwaltungsgerichten entweder nicht rechtzeitig geltend gemacht hat oder die von diesen als unerheblich beurteilt wurden“. Die Berufung auf etwa fehlenden Versicherungsschutz ist danach nicht (mehr) erheblich, das Verhalten der Stadt kann hierdurch offensichtlich nicht gerechtfertigt werden. Dies muss der Stadtverwaltung und damit dem Oberbürgermeister auch bewusst sein. Die Nichtüberlassung der Halle ist daher als krasse und eklatante Verletzung geltenden Rechts sowie als bewusste und vorsätzliche Missachtung rechtlicher Vorgaben zu qualifizieren.

Man mag zur Entschuldigung des Bürgermeisters anführen wollen, dass sein Verhalten einem Begehren einer verfassungsfeindlichen und antisemitischen Partei gilt – man könnte meinen, es treffe nicht die Falschen. Immerhin ist die NPD nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts eine verfassungsfeindliche Partei, die allein wegen mangelnder politischer Relevanz – in der Sache in Umsetzung von Vorgaben aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte zu Parteiverboten – nicht verboten worden ist. Der Staat kann daher eine solche Partei von der Förderung mit Finanzmitteln aus der staatlichen Parteienfinanzierung ausschließen (Art. 21 Abs. 3 GG). Indes ist im Übrigen schon in dem Jahr seit dem Nichtverbot der NPD durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 17. Januar 2017 geklärt worden, dass die Verpflichtung zur Gleichbehandlung aller nicht verbotenen Parteien durch die Exekutive ansonsten unverändert fortbesteht - wie auch der vorliegende Fall zeigt (vgl. ferner etwa Saarl. OVG, Besch. v. 10.07.17 - 2 B 554/27 = NVwZ 2018, S. 183). Davon unabhängig greift hier zunächst die einfach-gesetzliche Regelung in § 5 Abs. 1 PartG, auf die das Verwaltungsgericht Gießen seine Entscheidung maßgeblich gestützt hat, und steht zum anderen die Beachtung verbindlicher verwaltungsgerichtlicher Entscheidungen nicht im Belieben kommunaler Gebietskörperschaften und ihrer Repräsentanten. 

Dies wiederum führt zurück auf die Ausgangsfrage, was die Stadt veranlasst hat, die einschlägigen gerichtlichen Entscheidungen einschließlich der Festsetzung von Zwangsgeldern zu ignorieren. Die Antwort dürfte sein, dass es politisch richtig – um nicht zu sagen: korrekt – und deshalb auch politisch zweckmäßig ist, durch den Rechtsbruch ein Zeichen gegen „Rechts“ zu setzen. Im Grunde handelt es sich bei dem Verhalten des Oberbürgermeisters daher um schlichten Populismus: Das Handeln zielt auf Zustimmung der zivilgesellschaftlichen Gegner rechtsextremistischer Parteien und bringt deren Ablehnung gegen einen mindestens indolenten wenn nicht indifferenten Staat in Stellung, der durch eine Elite in roten Roben seine schützende Hand über Rechtsradikale zu halten scheint. Glückwünsche zu seiner Standhaftigkeit nimmt der OB weiter gerne entgegen; die Rechtsbindung der Verwaltung wirft man dabei leichtfertig über Bord. Damit wurde „Rechtsstaatlichkeit geopfert zugunsten einer in der Öffentlichkeit Beifall heischenden Profilierung als NPD-Gegner und es den Verfassungsfeinden überdies erlaubt, sich in einer Opferrolle zu inszenieren“ (A. Bäcker, MIP 2018, S. 112, Download hier).  

4. Konsequenzen

Das populistische Treiben der Akteure in Wetzlar unter Federführung des Oberbürgermeisters beschädigt nicht nur das Bundesverfassungsgericht, sondern in erster Linie das Vertrauen in die Bereitschaft der Institutionen zur Einhaltung ihrer Rechtsbindung und Beachtung der Gewaltenteilung. Es ist daher zu begrüßen, dass das Bundesverfassungsgericht die Kommunalaufsicht eingeschaltet hat. Indes kann es hier bei einer schlichten Beanstandung nicht sein Bewenden haben; auch beamten- bzw. disziplinarrechtliche Schritte dürften vielmehr angezeigt sein. Die Verletzung der Amtspflichten der handelnden Personen - namentlich des Oberbürgermeisters - hat hier zudem die weitere Folge, dass Zwangsgelder gegen die Stadt Wetzlar gerichtlich festgesetzt wurden. Diese Zwangsgelder werden daher der Stadtkasse vom Oberbürgermeister zu erstatten sein; die Stadt ist zur Geltendmachung eines Erstattungsanspruchs auch rechtlich verpflichtet.

Samstag, 3. Februar 2018

Alternative Fakten vom OLG Koblenz

Mit einem jetzt knapp ein Jahr alten Urteil vom 14. Februar 2017 hat das OLG Koblenz einen Antrag eines Jugendamtes auf Einrichtung einer Amtsvormundschaft für einen ohne Papiere eingereisten Flüchtling aus (mutmaßlich) Gambia abgelehnt (13 UF 32/17), der geltend macht, in seinem Heimatland zu Unrecht der Beteiligung an einer Straftat verdächtigt zu werden. In seinem Beschluss geht das Gericht zunächst der (zweifelhaften) Zuständigkeit der deutschen Gerichte nach, lässt diese aber im Ergebnis offen, weil es an Gründen für die begehrte Anordnung fehle, denn der (mutmaßlich) 1998 geborene Betroffene sei auch nach gambischem Recht mittlerweile volljährig. 

Dabei hätte es sein Bewenden haben können. Zielstrebig steuert der Senat gleichwohl auf den Höhepunkt der Entscheidung zu. Zunächst heißt es weiter, es fehle auch an einem „Fürsorgebedürfnis": Zum einen wäre bei „Anwendung der geltenden Gesetze ... mit einem zeitlich überschaubaren Aufenthalt des Betroffenen in Deutschland zu rechnen“ (Rn. 53), zum anderen sei auch ein „Bedürfnis, Rechtsgeschäfte von größerem Umfang abzuschießen [sic!], ... bei dem Betroffenen nicht ersichtlich (Rn. 55). Und schließlich die zentrale Erkenntnis: Dem Betroffenen drohe auch keine Strafverfolgung. Zwar habe er sich durch die unerlaubte Einreise strafbar gemacht (§§ 95 Abs. 1 Nr. 3, 14 Abs. 1 Nr. 1, 2 AufenthG). Aber (Tusch!):

Die rechtsstaatliche Ordnung in der Bundesrepublik ist in diesem Bereich jedoch seit rund eineinhalb Jahren außer Kraft gesetzt und die illegale Einreise ins Bundesgebiet wird momentan de facto nicht mehr strafrechtlich verfolgt“ (Rn. 58).

Dieser Satz ist eine Frechheit: Er ist sachlich falsch und verknüpft Sachverhalte, die nichts miteinander zu tun haben.

1. Der Betroffene war erst im November 2016 eingereist. Ein Zusammenhang mit den Flüchtlingsbewegungen des Jahres 2015 besteht daher nicht. Eine Entscheidung darüber, ob und wie die Strafbarkeit der passlosen Einreise in diesem Falle verfolgt wird, war zum Zeitpunkt der Entscheidung des OLG noch nicht zu erwarten.

2. Es ist durchaus zweifelhaft, ob sich die 2015 eingereisten Flüchtlinge überhaupt strafbar gemacht haben. Der Annahme, auch die Bundeskanzlerin habe sich in diesem Zusammenhang strafbar gemacht, ist mit guten Gründen unter Hinweis auf das Fehlen einer strafbaren „Haupttat“ entgegen getreten worden. 

Davon unabhängig waren schon bis Mitte 2016 Verfahren wegen unerlaubter Einreise im oberen sechsstelligen Bereich anhängigEs mag sein, dass diese Verfahren überwiegend eingestellt wurden. Dafür kann es unterschiedliche Gründe geben. Nach Maßgabe der Strafdrohung handelt es sich um Bagatellkriminalität, die Strafbarkeit ist zweifelhaft (s.o.), die Schuld jedenfalls gering, und die Verhängung von Geld- oder Freiheitsstrafen gegen Flüchtlinge, die in Flüchtlingsheimen am Existenzminimum leben, ist in ihrer Sinnhaftigkeit ohnehin zweifelhaft. Davon unabhängig gilt: Dass die staatliche Organisation nicht funktioniert und dem Legalitätsprinzip nicht entsprochen würde, lässt sich nicht feststellen.

3. Es ist unklar, was den Senat in Koblenz veranlasst hat, alternative Fakten zu verbreiten. Jedenfalls war das Vorhaben erfolgreich. In rechtsgerichteten Kreisen und unter Verschwörungstheoretikern macht das Urteil die Runde. Dort muss es zu allem Möglichen herhalten: Von der angeblichen kriminellen Energie der Regierung bis zum bevorstehenden Zusammenbruch der staatlichen Strukturen und dem Untergang des Abendlandes. Richter Maier von der AfD hätte das auch nicht besser hingekriegt. 

Indes: Richter sind Teil der staatlichen Gewalt und damit Grundrechtsadressaten, nicht Grundrechtsträger. Für sie gilt zwar die richterliche Unabhängigkeit. Diese ist aber Korrelat der richterlichen Gesetzesbindung und nicht ein Freibrief für beliebigen Unfug.